Die Sonne, der Nebel und ich

Sonnenaufgang über Kassel

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Kassel

Zweimal im Jahr, zur Tagundnachtgleiche im Frühling und im Herbst, geht die Sonne genau im Osten auf. Das Wahrzeichen Kassels, der Herkules, blickt in Richtung Osten die lange Wilhelmshöher Allee hinunter und bis zum Horizont. Was liegt also näher, als aus dieser Perspektive ein Foto zu machen und den Sonnenaufgang genau in der Flucht der Straße festzuhalten?

Gesagt, getan. Oder eben auch nicht, denn diesem Schuss laufe ich nun schon ein paar Jahre hinterher. Ja genau, Jahre! Denn irgendwas ist ja immer, wenn sich der Frühlings- bzw. Herbstbeginn nähert. Dabei ist es doch eigentlich gar nicht so schwer. Mit Apps wie dem von mir sehr geschätzten TPE ist es spielend einfach, die genauen Daten für den perfekten Sonnenstand über der Stadt herauszufinden. Mit anderen Apps wie dem von mir sehr geschätzten Viewfindr ist es ebenso einfach, die richtige Wettervorhersage für den nächsten Tag herauszufinden, Höhe und Menge der Bewölkung sowie die Chance auf Morgenrot inklusive. Und den Weg zum Herkules kenne ich natürlich auswendig, auch daran scheitert es nicht.

Aber dann ist da noch die winzige Tatsache, dass zum richtigen Zeitpunkt eben auch das richtige Wetter vorherrschen muss—und das hatte in den letzten Jahren unverständlicherweise einfach kein Interesse daran, mein Fotoprojekt zu unterstützen.

So stand ich schon bei dichten Wolken am Ort des Begehrens, in der schmalen Hoffnung, dass der Himmel einfach kurzfristig für einen Sonnenstrahl aufreißen könnte (Spoiler: konnte er nicht), ich stand schon bei bestem Wetter ein paar Tage zu früh oder zu spät dort, der hirnrissigen Meinung, dass TPE ja vielleicht doch nicht so präzise ist, wie geglaubt (Spoiler: ist es doch)—und blieb natürlich auch schon im gemütlichen Bett liegen, weil es in Strömen regnete und nichtmal die ewige Optimistin in mir noch auf einen plötzlichen Wetterumschwung hoffen wollte.

Und dann kam dieses Jahr, nach ergiebigen Regenfällen am Tag zuvor und kalten Temperaturen in der Nacht, versprach der darauffolgende Tag, herbstlich golden und sonnig zu werden. Die Vorhersage verhieß klaren Himmel mit leichtem Morgenrot, perfekt also für den Herbstbeginn und das Herbstäquinoktium, so dass ich frohen Mutes den Wecker stellte und die Ausrüstung bereit legte. Allerdings sind Regentage in Kombination mit kalten Nächten auch ein Garant für morgendlichen Dunst, gerade in Kassel, da die Stadt in einer Senke liegt und rundherum eingeschlossen ist von Hügeln mit Wald oben drauf—und so wache ich beim Weckerklingeln im dichtest vorstellbaren Nebel auf. Also so ein “Wir hatten doch mal Häuser in der Nachbarschaft?”-Nebel, der blickdicht vor den Fenstern wabert. Nicht, dass ich als Nebelfan mich jemals über dieses Wetterphänomen beschweren würde, aber meine Pläne sehe ich schon wieder ins nächste Jahr entschwinden. Den Weg zum Herkules lege ich natürlich trotzdem zurück, wenn man schon mal wach ist—und oben angekommen offenbart der Blick ins Tal eine Inversionswetterlage vom Feinsten.

Schloss Wilhelmshöhe im Nebel

Schloss Wilhelmshöhe im Nebel

Also flugs das Stativ hingestellt, ein paar Minuten später schiebt sich auch schon ein goldener Sonnenball über den Horizont, theoretisch genau im richtigen Winkel über der Wilhelmshöher Allee, wenn man sie denn sehen könnte. Sogar den Windrädern, die ich sonst häufig aus meinen Fotos rausretuschiere, verleiht dieser Anblick einen mystischen Touch.

Die Sonne erhebt sich hinter dem Horizont

Die Sonne erhebt sich hinter dem Horizont

Im Höhersteigen beleuchtet die Sonne die dicke Wolkendecke im Tal, unter der Kassel noch friedlich schläft, während hier oben am Herkules schon ein herbstliches Sonnenbad gemacht werden kann.

Blick über die Kaskaden bei bester Inversionswetterlage

Blick über die Kaskaden bei bester Inversionswetterlage

Ich bin zufrieden, auch wenn der Titel dieses Eintrags nicht ganz korrekt ist, denn er müsste ja eigentlich lauten “Sonnenaufgang über Kassel—ohne Kassel” und freue mich schon auf die Tagundnachtgleiche im nächsten Frühling, bei dem die Sonne auch wieder genau im richtigen Winkel aufgehen wird.

Kassel Park Fotospot Sonnenaufgang

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Kathinka
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Kathinka

Lebt im grünen Nordhessen, weil es dort so schön ist. Hat als studierte Germanistin in langjähriger Arbeit in der Informatik Nerdwissen Deluxe gesammelt. Mag Matsch und Schlamm genauso gern wie einen bunten Sonnenaufgang, steht für beides auch mal mitten in der Nacht auf und findet, dass es generell nie genug Bilder von Bäumen im Nebel geben kann.

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